Wollt ihr mehr von mir wissen? Ich berichte gerne. Vorab muss ich aber ankündigen, dass ich mich nunmehr des Öfteren meiner eigentlichen Sprache befleißigen werde. Keine Angst, ich schreibe nicht englisch (dort bin ich nämlich gebaut worden), aber ich möchte doch Abstand nehmen von dieser flapsigen Ausdrucksweise, verziert mit ;-))) und LOL und *kopfschüttel*, die sich in den letzten Jahren so sehr verbreitet hat.
Wenn ihr von mir und meinem ereignisreichen Leben lesen wollt, müsst ihr damit vorlieb nehmen, dass ich, zumindest was meine Erinnerungen an meine ersten hundert Lebensjahre betrifft, mich doch etwas gewählter ausdrücken will. Zu diesem Behufe nutze ich auch Wörter, die ihr vielleicht gar nicht mehr kennt. Es fällt mir einfach leichter, wenn ich schreiben kann, wie ich es aus meiner Kindheit gewohnt bin, und verbleibe euch inniglichst verbunden, wenn ihr meine „Memoiren“ trotzdem lest.
Das Licht der Welt erblickte ich an einem Tag im August 1811, genauer gesagt, am achten August. Das war ein Montag. Man beachte: Nächstes Jahr werde ich 200 (in Worten: zweihundert!) Jahre alt - das muss gefeiert werden! Zwar dauerte der eigentliche Prozess meiner Erschaffung über mehrere Wochen (wenn man einmal die Lagerungszeit des Holzes, aus dem ich gemacht bin, nicht mit einrechnet), am Sonnabend, dem 6. August, war ich fast fertig, doch fehlte noch eine letzte Politur. Erst nach dem Wochenende war es dann soweit. Der Geselle in der Schreinerei trug ein fein duftendes Bienenwachs auf meine Oberflächen auf und polierte, polierte, polierte, bis ich rundum in einem warmen Kastanienbraun blitzte und glänzte. Zu guter Letzt schraubte der Geselle Griffe an meine Schubladen, mir dünkte, sie wären aus purem Gold. Später erfuhr ich, dass die Griffe lediglich aus Messing waren, aber meiner damaligen Freude tat das keinen Abbruch.
Jetzt kam der Meister in die Werkstatt. Ich wurde persönlich begutachtet! Der Meister ging um mich herum, prüfte, ob alles richtig und sauber verarbeitet war, ob sich die Schubladen gut herausziehen ließen, ob ich genügend lange poliert worden war. Das war mir sehr recht, ich wollte ja nicht schmierig auf die Welt kommen. Es war alles aufs Beste gelungen, der Meister war sehr zufrieden und lobte den Gesellen.
Mein Geburtstag! Ich war stolz auf mein gutes Aussehen und sehr, sehr neugierig, was mich alles erwarten würde. Schließlich kannte ich nur die staubige Werkstatt, andere halbfertige Möbelstücke um mich herum und ganz viele Bretter. Aber auf Dauer war das langweilig. Nun sollte ich etwas Neues erleben! Der Meister und der Geselle trugen mich hinaus ins Freie, und mir verschlug es den Atem. Alles um mich herum war strahlend hell, es war wunderbar warm, nicht so stickig und heiß wie in der Werkstatt, sondern angenehm, mein Holz nahm die Sonnenstrahlen in sich auf, ich hätte mich am liebsten gedehnt und gestreckt. An der Werkstatt führte eine schmale Straße vorbei. Ich beugte mich ein wenig vor und blickte die Straße hinunter. Vom anderen Ende kam etwas Merkwürdiges auf mich zu, ein Gefährt mit Pferden davorgespannt. Vier schwarze, große Pferde sah ich. Ich erschrak ein wenig, jedoch der Meister legte beruhigend seine Hand auf meine Platte. „Sir Quinsley ist pünktlich!“, sagte er zum Gesellen. „Gehe er hinein und hole die Papiere!“
Der Geselle eilte von dannen, ich war die letzten Minuten mit meinem Meister alleine. Ich schaute wieder die Straße entlang und sah nun ein zweites Gefährt, das hinter dem mit den vier schönen schwarzen Pferden auftauchte. Dieses wurde von zwei Tieren gezogen, allerdings waren diese nicht so schön. Sie sahen fleckig aus, weiß und braun, wie schon lange nicht geputzt und poliert und sie hatten gebogene Hörner. Pferde kannte ich, der Meister besaß ein wunderschönes rotbraunes mit gelblichen langen Haaren am Hals und ebensolchen hintendran. Aber diese zwei fleckigen gehörnten, was sollten die denn sein? Ich würde es gleich erfahren.
„Sir Quinsley bringt den Ochsenkarren ja schon mit!“, rief der Meister aufgeregt. „Sicherlich hat er dann auch die vereinbarten drei Pfund Sterling dabei!“
Ich schüttelte verwirrt die Mittelschublade. So viele neue Dinge, so viele neue Wörter! Wie sollte ich das alles lernen, wie sollte ich mich in dieser Welt zurechtfinden? Was war ein Ochsenkarren? Ein Sir? Ein Quinsley? Ein Pfund?
Mir wurde himmelangst. In diesem Augenblick hielt das erste der beiden Gefährte vor der Werkstatt. Der Meister eilte hin und half zwei Menschen aus dem Gefährt.
„Welch bezaubernder Anblick, Lady Quinsley!“, sagte er zu einem der beiden Menschen, und half diesem von dem Gefährt herab. „Und die neue Kutsche, wirklich ein außergewöhnlich schönes Stück!“ Er reichte dem Menschen, der ein langes Kleid trug, die Hand, damit dieser über eine Trittstufe herunter steigen konnte. Das Kleid hatte die gleiche Farbe wie der Wein, den der Meister manchmal abends trank und war hinten viel zu lang, es hing im Straßenstaub, aber der Mensch darin beachtete dieses Missgeschick gar nicht. Er kam auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen.
Ich schnupperte, dieser Mensch roch einzigartig gut. Noch nie hatte ich etwas so Himmlisches gerochen. Der Meister und der Geselle hingegen hatten nie so gut gerochen. Manchmal sogar etwas unangenehm. Nun, ich verstand es, in der Werkstatt wurde schwer gearbeitet, nicht immer konnte man lüften. Während meiner Herstellungszeit hatte ich mich nie beschwert, ich kannte ja nichts anderes. Aber dieser Duft jetzt – er brachte mich schier um den Verstand. Ich schob ganz unauffällig die beiden oberen Seitenschubladen ein winziges Stückchen vor und schnüffelte, so fest ich konnte, um möglichst viel von diesem herrlichen Duft einzuatmen. Eines stand fest: Der Mensch im langen dunkelroten Kleid konnte kein gewöhnlicher sein!
„Sehen Sie nur, Lady Quinsley, er ist genau rechtzeitig fertig geworden! Sind Euer Ladyschaft zufrieden?“, fragte der Meister den Kleidermenschen, trat gleich darauf einen Schritt zurück und verbeugte sich. Inzwischen war auch der zweite Mensch aus der Kutsche ausgestiegen. Er schlug dem Meister kräftig auf die Schulter. „Meine Frau ist begeistert, das sehen Sie doch!“ Ah, Kleidermenschen hießen also Frau. Ich musste nur gut genug aufpassen, dann würde ich beständig dazulernen. So erging es mir die nächsten Tage, Wochen; Monate, ja mein ganzes Leben. Ich hörte aufmerksam zu und lernte. Lady Quinsley streichelte behutsam über meine linke Schublade (ich hatte sie ganz schnell wieder zugezogen) und berührte sanft den Griff. Und nun sprach sie zum ersten Mal.
„Oh Meister John, Sie haben ein wahres Schmuckstück geschaffen!“, sagte sie mit einer Stimme, die genauso war, wie Lady Quinsley roch. Lieblich, zauberhaft, himmlisch. Was für ein Glück ich hatte! Ich erinnerte mich, als letzte Woche ein Schrank bei Meister John fertig geworden war. Zwei ungehobelte, hässliche Männer hatten den Schrank mitgenommen. Ich dagegen...ich hatte Glück! Zu mir kam eine duftende, freundliche Frau!
Lady Quinsley wandte sich dem Mann zu, der mit ihr gekommen war. Immer noch spürte ich ihre Hand an meinem Griff. „David, David!“, rief sie, „ist er nicht prachtvoll?“ Ich nahm an, sie würde mich David nennen, ich war aufgeregt, durcheinander, hingerissen von Lady Quinsleys Stimme und Duft. Später sollte ich erfahren, dass Möbel im Allgemeinen keine Namen haben, erst in der heutigen Zeit werden sie getauft. Viele heißen Billy oder Benno oder ähnlich. Damals glaubte ich eben, David sei mein Name, und ich behielt ihn.
Meister John und Sir Quinsley regelten noch etliche Dinge untereinander. Sie unterzeichneten Papiere (auf meiner Oberfläche, das drückte mich ein wenig), dann wechselte ein Beutel den Besitzer. Der Geselle brachte weiche Wollstoffe, in die ich eingewickelt wurde, und grobes Leinen, das über die weichen Stoffe kam. Sorgfältig verschnürten mich Meister und Geselle. Zwei große, kräftige Männer, die mit dem Ochsenkarren gekommen waren, hoben mich auf die Ladefläche des Gespanns. Ich wurde an den Seitenstreben festgebunden.
Aus einer winzigen Stelle in meiner Umhüllung heraus konnte ich sehen, wie Sir und Lady Quinsley die Kutsche bestiegen. Ich atmete heftig und zappelte ein bisschen, weil ich gerne das Guckloch vergrößern wollte. Ich musste doch möglichst viel mitbekommen! Kutsche und Ochsenkarren fuhren los, erst ein Stück geradeaus, bis ein großer freier Platz kam. Dort wendeten wir und fuhren zurück. Ich bekam Angst. Sollte es bei dieser kurzen Fahrt bleiben? Ich wollte doch bei Lady Quinsley sein! Oder sollte ich vielleicht schon wieder abgeladen werden?
Meine Sorge war unbegründet. Zwar verlor ich die Kutsche aus den Augen, denn sie wurde schneller und schneller. Doch wir fuhren in die gleiche Richtung. Das Ochsengespann war eben viel langsamer. Ich begrüßte diesen Umstand, konnte ich doch auf diese Weise aus meiner Verpackung hinausblinzeln und die Welt um mich herum betrachten.
Ich sah unglaublich vieles! Saftige grüne Wiesen, hohe Bäume, deren Kronen sich im Sommerwind wiegten, Tiere, deren Namen ich alle noch nicht kannte, sogar Tiere hoch oben in der Luft. Ich war überrascht, dass keines davon herunter fiel!
Die Straße war holprig und ich wurde richtig durchgeschüttelt. Auch drang hin und wieder Straßenstaub durch die Stoffe hindurch. Aber ich beschwerte mich nicht, zu aufregend war dieser Tag!
Nach einiger Zeit hielten wir an, der Mann vorne am Gespann sprang herunter, zog eine Flasche aus seiner Jackentasche und trank einen kräftigen Schluck. Er nahm seine Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „So eine Hitze heute“, stöhnte er. Ja, da hatte er recht. Ich schwitzte auch, war ich doch zusätzlich noch warm eingepackt. Ich hoffte nur, dass ich nicht unangenehm müffeln würde, wenn ich wieder bei Lady Quinsley war. Das wäre mir sehr peinlich gewesen. Der Mann vom Kutschbock ging ein paar Schritte vom Gespann weg und stellte sich, mit dem Rücken zu mir, an einen Baum. Ich wollte lieber nicht wissen, was er da machte. Der andere, der ebenfalls mit dem Ochsenkarren gekommen war, saß neben mir auf der Ladefläche. Er hatte sich an meine Rückseite gelehnt und schnarchte leise. Kurz darauf ging die Fahrt weiter. Allmählich holperte und rumpelte es nicht mehr so schlimm. Auch sah ich immer mehr Häuser und immer mehr andere Gefährte, die unterwegs waren. Die Häuser wurden größer und höher, es waren unglaublich viele Kutschen, Karren und auch Menschen auf der Straße unterwegs. Ich schaute aufgeregt herum, ob ich irgendwo Lady Quinsley und ihre Kutsche mit den vier schwarzen Pferden sah, aber es war zuviel Gedränge und Trubel.
Auch viele kleine Menschen waren unterwegs. Manche wurden von großen Menschen in kleinen Karren herum geschoben, andere klammerten sich an die Hände der großen Menschen oder wurden getragen. Ich vermutete, dass diese auch noch sehr jung waren, so wie ich. Wir mussten bremsen, weil eine Kutsche mit sechs weißen Pferden uns fast gerammt hätte. Es rüttelte und schüttelte mich auf der Ladefläche heftig durch, der Mann neben mir erwachte. Er gähnte, sah sich um und rief: „Mann, wir sind ja schon in London!“
Worin waren wir? Ich verstand wieder einmal nichts. Wohnte hier vielleicht Lady Quinsley? Ich war ja so gespannt! Die Fahrt ging weiter, und kurze Zeit später waren wir am Ziel. Ich spähte noch einmal durch mein Guckloch und entdeckte ein Haus, wie ich auf der ganzen Fahrt noch keines gesehen hatte. Ich sah viele Fenster, Erker, Türmchen, Giebel, es war unglaublich! Das Haus war schneeweiß gestrichen, um die Fenster herum waren Verzierungen in Himmelblau. Vor dem Haus wuchsen viele Blumen in mehr Farben, als ich kannte. Ich konnte mich nicht satt sehen daran. Und vor genau diesem Haus hielten wir an!
Der Mann neben mir rappelte sich auf und sprang vom Ochsenkarren. Er ging eine breite Treppe hinauf, die zur Eingangstür führte, die Tür war mit einem Türklopfer aus dem gleichen Material versehen wie meine Griffe. Und ich wusste, das musste das Haus von Lady Quinsley sein. Hier wohnte sie, und hier würde nun auch ich wohnen.
Fortsetzung folgt!