In einem meiner früheren Beiträge ist zu lesen: „Ich habe immer schon gern geschrieben“. Das stimmt so nicht ganz. Es entfallen meine ersten sechs Lebensjahre, in denen ich noch gar nicht schreiben konnte. Aber dann...dann konnte ich lesen, dann lernte ich schreiben. Schulzeit. Nein, ich bin nicht immer gerne in die Schule gegangen, das jetzt hier zu behaupten, wäre schlichtweg gelogen. Ich hasste das frühe Aufstehen (damals genauso wie heute), und es gab einiges in der Schule, worauf ich liebend gern verzichtet hätte. Rechnen zum Beispiel. Oder Turnen. Aber es gab auch Fächer, die ich liebte. Eben das Fach, in dem man hauptsächlich las und schrieb. Zwar langweilte ich mich am Anfang manchmal (weil ich schon lesen konnte), aber das gab sich nach ein paar Wochen. Schreiben lernen begeisterte mich dagegen. Hingebungsvoll malte ich Buchstaben und träumte davon, selber Geschichten zu schreiben. Daran war in der ersten Klasse natürlich noch nicht zu denken, aber ich übte, ich übte ganz fleißig. Leider blieb damals meine Fähigkeit, mich auszudrücken, noch weit hinter meiner Phantasie zurück. Also schrieb ich die meisten Geschichten im Kopf. Und eines Tages war es in der Schule soweit: Wir schrieben Aufsätze.
Der Aufsatz, von vielen meiner MitschülerInnen gefürchtet und verabscheut, wurde von mir innig geliebt. Themen wie „Meine letzten Ferien“ oder „Mein Haustier“ entfachten meine Fantasie und ließen Wörter aus mir heraussprudeln, oft schneller, als ich sie aufschreiben konnte. Der Aufsatz heißt Aufsatz, weil man erst etwas aufsetzen muss, einen Entwurf machen, eine Planung, eine Gliederung. Diese Vorgehensweise übernahm ich notgedrungen, weil meine Lehrerin sonst nicht zufrieden gewesen wäre. Aber immer wieder versuchte ich, diese Anweisung zu umgehen. Denn eigentlich lief es bei mir so ab:
Bekanntgabe des Themas: „Als ich mich einmal richtig gefürchtet habe“
Du meine Güte, einmal? Ich fürchtete mich doch ganz oft! Im Keller, vor Spinnen, wenn ich was angestellt hatte, vor der alten Frau aus dem dritten Stock, die immer so böse schaute, vor der spiegelglatt gebohnerten Treppe, die ich letzte Woche hinuntergefallen war, vor ... Es nahm kein Ende, es gab so vieles, worüber ich schreiben wollte!
Alle anderen in der Klasse saßen da, starrten auf ihr leeres Papier, einige malten sorgfältig die Worte Einleitung, Hauptteil, Schluss auf ihr Blatt. Andere kauten am Bleistift. Ich überlegte mir, dass die meisten über ähnliche Dinge schreiben würden wie ich. Vor dem Keller zum Beispiel hatten viele Angst. Im Keller lagerten Holz und Kohlen, es war dunkel, an der Decke hing eine einsame, funzlige Glühbirne, die nur ein trübes, schwaches Licht verbreitete. Im Keller hausten Spinnen. Fast niemand ging da gern hinunter. Ich wollte aber nicht einfach nur über einen dunklen Keller schreiben. Ich wollte auch nicht nur über eine große Spinne schreiben. Ich wollte eine richtige Geschichte schreiben.
An der Tafel stand das Thema, darunter: Drei Seiten. Drei Seiten! Auf diesem lächerlichen, groß linierten Papier! Ein Witz, was sollte ich mit drei Seiten? Vor mir lag ein Blatt, in der Mitte gefaltet, sodass es vier Seiten mit großen fetten Linien ergab, für die „Reinschrift“ und ein einzelnes, auf dem ich „aufsetzen“ sollte. Das ergab zusammen sechs Seiten. Wenn ich nicht dabei erwischt wurde, dass ich nicht aufsetzte, könnte ich sechs Seiten vollschreiben. Immer noch zu wenig, aber ich schrieb besonders eng. Ich setzte nicht auf, ich schrieb sofort los, und ich schrieb nicht mit Bleistift, sondern gleich mit dem Füller. Eine Reinschrift in 40 Minuten. Ich wusste schon vorher, wie es ausgehen würde, aber ich konnte nicht anders.
Aus dem Thema, meinen Gedanken und Ängsten und den sechs leeren Seiten bastelte ich eine wilde Geschichte. Das Thema änderte ich ab in: „Als ich mich einmal richtig gefürchtet habe und dabei fast gestorben wäre“.
In Kürze: Ich musste in den Keller, für den Ofen Holz holen, im Kellerabteil nebem unserem hörte ich die alte Frau, wie sie mit jemandem sprach, den ich nicht sehen konnte, es war zu finster. Ich packte schnell das Holz in den Korb und rannte wieder hinauf. Vor unserer Wohnungstür stellte ich den Korb ab, die alte Frau keuchte die Treppe herauf, in der Hand hielt sie ein kleines Stoffbündel, in dem etwas zappelte. Ich klingelte, klopfte, niemand machte auf. Die alte Frau lachte mich aus und griff mit ihrer knochigen Hand nach mir. Sie zerrte mich die Treppe hinauf, ein Stockwerk höher, in ihre Wohnung. Dort geschahen fürchterliche Dinge. Ich hatte noch drei leere Seiten, Mist, der Platz wurde schon wieder knapp. Immer hatte ich zu wenig Papier! Und zu wenig Zeit! In dem Zappelbündel war – was sonst – eine große Spinne, eine absolute Riesenspinne, und dann musste ich einen ganz schrecklichen Tee trinken, der bitter schmeckte. Mir wurde schwindlig, die Riesenspinne richtete sich auf ihren Hinterbeinen auf, die alte Frau lachte böse. Eine Seite noch, und die Stimme der Lehrerin: In fünf Minuten ist Schluss! Ich schrieb immer enger, nutzte den Raum zwischen den Zeilen auch noch aus, ich musste unbedingt noch unterbringen, wie die Spinne zur Teetasse krabbelte, und wie die alte Frau dann...und überhaupt, es fehlten noch jede Menge Details, die ich nachträglich einfügen wollte. In der Reinschrift durfte man vergessene Stellen mit * und *) ergänzen, ich war jetzt schon bei ****** und ******). So wenig Platz, so wenig Zeit, ich musste doch unbedingt noch...
ENDE. Neben mir stand meine Lehrerin und streckte die Hand aus. Ich sah sie bittend an, sie schüttelte den Kopf. „Du musst jetzt abgeben!“ Ich schob die Blätter zusammen, murmelte noch „ich bin aber noch nicht fertig“ und gab ab. Über das Ergebnis, die Note, die solche Werke erhielten, und über die schriftliche Bemerkung, die meine Lehrerin verfasste (auf einem Extrablatt, ich hatte ja keinen Platz übrig gelassen), breite ich jetzt mal diskret den Mantel des Schweigens...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen